Kinderpolitik und Kinderfreundlichkeit

Die Schaffung einer besseren, den Kindern und Jugendlichen angemesse­neren und bedürfnisgerechteren Umwelt sollte also das Ziel aller politi­schen Handlungen sein. Sie sind entscheidend dafür, wie Kin­der und Jugendliche heute aufwachsen, wie ihre Handlungsmöglichkeiten zur frei­en Entfal­tung aussehen und gestaltet werden können. Doch um zu einer kin­derfreundlicheren Um­welt1 zu gelangen, bedarf es Veränderungen in vie­len (kommunal-politi­schen) Bereichen. Dies meint, daß die Kinderpo­litik immer auch “Quer­schnittspolitik” ist. Denn um die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen positiv zu beeinflussen, muß sich Kinderpolitik in alle Po­litik- und Entschei­dungsbereiche einmischen, die die Lebenswelt der Kin­der tangieren. So wird deutlich, daß es kaum ein Politik­feld gibt, von dessen Ent­scheidungen Kinder und Jugendliche nicht di­rekt oder indi­rekt be­troffen sind. Die Interessen der jeweiligen Zielgruppe müß­ten al­so in alle kommu­nalen Entscheidungs- und Planungsbereiche einge­bracht und dort auch berücksich­tigt wer­den können. “Erklärtes Ziel der Kinderpoli­tik sollte es daher sein, alle anderen Poli­tikbereiche dahinge­hend zu beein­flussen, daß sie das Wohl des Kindes als vorrangigen Ge­sichtspunkt bei ihren Entscheidungen berücksichti­gen.”2

Und der “der Politik der Bundesregie­rung zugrunde liegende Leitgedanke einer Jugend­politik als Querschnittspolitik erfordert die Einbeziehung von Kin­dern und Jugendlichen in Diskussions- und Entscheidungsprozesse in al­len Politik­feldern, in denen sie von den Auswirkungen der Entscheidun­gen betroffen sind. In diesem Sinne wird die Bundesregierung für ihren Be­reich dafür Sorge tragen, daß die Beteiligungsmöglichkeiten junger Men­schen in die­sen Prozessen konti­nuierlich bewertet und gegebenenfalls ausgeweitet werden.”3

Politik für, mit und von Kindern und Jugendlichen

Kinderpolitik an sich, läßt sich wiederum in drei Teilbereiche aufgliedern, wel­che gleichzeitig teilweise unterschiedliche Herangehensweisen darstel­len und in der folgenden Graphik nach Bartscher zusammenfassend dargestellt sind.

Bartscher - Kinderpolitik


Grafik4

Politik für Kinder:

Hierbei ist “das Handeln einer erwachsenen Interessenlobby (gemeint), die – teilweise unabhängig von aktiver Kinderbeteiligung – zur Durchsetzung von Kinderinteressen aktiv wird.”5 Somit wären damit “die Konzepte und Aktivitä­ten der in der Politik, Verwal­tung und anderen gesellschaftlich rele­vanten Be­reichen verantwortlichen Er­wachsenen gemeint, die zur Verwirk­lichung (die­ser) … Ziele”6 beitragen wollen.

Beispiel hierfür sind Kinderbüros, Kinderbeauftragte, Kinderanwälte und Kin­derkommissionen. Angesiedelt sind diese Einrichtungen – so es sie auf kommunaler Ebene überhaupt gibt – häufig im Jugendamt, bei Freien Trägern oder aber in De­zernaten der kom­munalen Verwaltung.

Die kommunalpolitischen Institutionen sind vor allem dazu nötig, Kinderin­teressen auf kom­munalpolitischer Ebene einzubringen und durchzusetzen. Sie lassen sich insbesondere daran messen, wie viele Rechte, Befugnisse und Kom­petenzen sie in den jeweiligen Gremien zugestanden bekommen, um ein Um­denken hinsichtlich mehr Kinderfreundlichkeit bei den jeweiligen Ent­scheidungen zu bewirken. Zudem sind sie die unterste Ebene, an die sich Kinder und Ju­gendliche mit ihren Bedürfnissen wenden könnten, “be­sonders eine, die Ver­bindungen zu den Entscheidungsträgern der Gesell­schaft hat.”7

Institutionen, die hingegen bei Freien Trägern angesiedelt sind, “müssen, weil die unmittelbare Einflußnahme auf Verwaltungsabläufe unmöglich ist, weit mehr auf die Wirkung der Medien bauen, sie müssen versuchen, über Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Druck zu machen. In vielen Fällen gelingt das auch, weil die meisten Medien offen für Kinderthemen sind.”8

Institutionale Kinderpolitik ist also vonnöten, solange Städte sich kinder­feindlich und sich die Gesellschaft “kindentwöhnt”9 darstellen. Zudem ist sie an­gebracht, um die (nach Möglichkeit) gesamten oben genannten poli­tischen Bereiche in den jeweiligen Kommu­nen nicht nur ideell, sondern be­stenfalls auch finanziell in die (kinderfreundlichen) Wege lei­ten zu können.

Politik mit Kindern:

Hiermit sind die Konzepte und Aktivitäten von Erwachsenen (z.B. Eltern, Pädagogen, Politikern, Architekten, aber auch die o. a. In­stitutionen) ge­meint, die gemeinsam mit Kin­dern zur Verwirklichung von Kinder­interessen beitragen. Sie handeln mit dem Ziel, eine kinderfreundli­chere Um­welt zu schaffen und beteiligen die be­troffenen Kinder auch da­bei.

Beispiele hierfür sind etwa Aktivitäten, wie Kinder- und Jugendparlamente, Kin­der- und Jugendfo­ren, Kinder- und Jugendkonferenzen, Pla­nungszirkel und Zukunftswerkstätten, welche ich in Kapi­tel 5.3 und speziell in Kapitel 7 näher be­schreiben werde.

Politik von Kindern:

Hierbei handelt es sich um eine politische Form, die von Kindern direkt und (zumeist) ohne die Hilfe von Erwachsenen initiiert wird.10 Dieses selbstbe­stimmte Handeln der Kinder und Jugendlichen bedarf zur Realisie­rung ih­rer Vorhaben allerdings wiederum der fachlichen erwachsenen Hilfe und Unterstützung. Etwa, um sich in den zuständigen Gremien und Fachaus­schüssen und hinsichtlich der jeweiligen Ansprechpartner zurecht zu fin­den.

Leider ist es oftmals so, daß jene Projekte scheitern oder aber im Sande verlaufen, da Kinder und Jugendliche allein keine Ansprechpartner zur Umset­zung ihrer Interessen finden können, bzw. da ihre zumeist sponta­nen Ideen und Wünsche in den kommunalen Haushalten noch nicht vorge­sehen und somit auch nicht eingeplant und umsetzbar sind.

Dieses Manko der verhinderten zeitnahen Reaktion auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, bedingt durch langwierige Haushaltsverfah­ren, Verwaltungsabläufe und politische Durchsetzungsaktionen ist aller­dings in allen kinderpolitischen Bereichen zu finden.

Da es sich speziell bei dieser Form aber um Konzepte und Aktivitä­ten von Kin­dern und Jugendlichen handelt, die autonom und selbstbestimmt durch Denken und Handeln ihre Lebenswelt verbessern wollen, wäre es zu be­grüßen, wenn Beteiligte der ersten beiden Politikformen, mehr Öffentlich­keitsarbeit leisten könnten und würden, was natürlich auch mehr (besten­falls spontan) bereit­zustellende fi­nanzielle Mittel mit einschließen würde.

Eine genaue Grenzziehung zwischen den drei Politikbereichen “von”, “mit” und “für” Kinder und Jugendliche ist in der Praxis häufig nur schwer mög­lich. Zu­mal sich meiner Meinung und Erfahrung nach alle drei Bereiche, wenn sie denn etwas bewirken wollen, vernetzt arbeiten müssen.

Kinderfreundlichkeit – Kinderfreundlichkeitsprüfungen

Grundprinzip und zugleich Qualitätsmerkmal aller politischen Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche betreffen [und wie ich sie im letzten Kapitel als Querschnittspolitik beschrieben habe], sollte zuallererst sein, ob sie kinder­freundlich sind, der “Kinderfreundlich­keit” ent­sprechen.

Doch was ist mit diesem (zunächst abstrakten) Begriff “Kinderfreundlich­keit” überhaupt gemeint?

Von einem bundesweiten Arbeitskreis von Kinderbe­auftragten11 wurden Leitfragen entwickelt, mit denen man so versuchen will, alle Verwaltungs­entscheidungen auf ihre Kinderfreundlichkeit hin zu überprüfen. “Für die ei­nen ist das eine de­fensive, reaktive und technokratische Überprüfung von Ver­waltungsvorgängen – und aus diesem Grund abzulehnen, weil selbst kei­neswegs kin­derfreundlich -, für andere ist Kinderfreundlichkeit die Grundla­ge jeder Kin­derpolitik.”12

Für mich repräsentieren die sieben Aspekte der Kinderfreundlichkeitsprü­fung, als Fragenkatalog verstanden, allerdings auch eine Herangehenswei­se, die es ermöglicht, “daß Problemlösungen nicht einfach vorgegeben werden können, sondern daß Sachverstand vor Ort gefordert ist, um letzt­endlich zu angemessenen Entscheidungen zu kommen.”13 Dieser Sachverstand vor Ort läßt sich allerdings nur von den dort partizipierenden Kin­dern und Jugendli­chen – verstanden als Experten ihrer Umwelt, als Subjekte – herleiten. Und dieser Aspekt ist in den sieben Prüf­steinen immanent.

Was bedeuten diese sieben Prüfsteine14 nun aber im Einzelnen?

Gesundheit und Sicherheit fördern:

Jedes Kind hat Anspruch darauf, daß es in einer gesunden Umwelt und in Lebensverhältnissen aufwachsen kann, die ihm Geborgenheit und die Un­antastbarkeit von Leib und Leben gewährleisten und seine Entwick­lung för­dern kann.

Was daraus praktisch folgen sollte, ist, daß auf allen Verantwortungsebe­nen (in Planung und Ausführung), die Folgen abgeschätzt werden sollten, die für die Ge­sundheit und Sicherheit der Kindern ent­stehen könnten.

Gebrauchsfähigkeit herstellen:

Wie schon erwähnt, eignen sich Kinder ihre Umwelt im Tun, im unmittelbaren Gebrauch an. Das verlangt besondere Aufmerksamkeit für das, was Kinder in ihrer Lebenswelt brau­chen. Es gilt also herauszufinden, wie Kinder leben und spielen und wie die Ge­staltung der Lebenswelt dar­auf abzustimmen wäre. Im zweiten Kapitel habe ich diesen Aspekt bereits nä­her be­handelt und die Empfehlungen der Autoren des Zehnten Kinder- und Ju­gendberichts15 kann man auch in die­sem Zusammenhang verstehen.

Veränderbarkeit zulassen:

“Kinderfreundliches Planen muß Möglichkeiten der Aneignung und Mitge­staltung eröffnen und über die Planung hinaus sicherstellen, damit Kinder sich nicht überflüssig fühlen.”16

Kinder verändern im Tun ihre Welt, welches ich im zweiten Kapitel als die Schaf­fung ihrer eigenen Kultur bezeichnet habe. Allerdings können sie dies nur, wenn sie nicht schon verbaut wurde. Etwa indem Erwach­sene die Leben­sumgebung der Kinder schon fertig, perfekt und ab­schließend gestaltet ha­ben.

Kinderfreundlichkeit ist also nicht einfach da – sie entsteht vielmehr immer wieder neu. Und zwar, indem Kinder selbst daran mitwirken, wie ihre Le­bensumgebung aussehen soll. Schon die Planungen müssen, wie in Kapi­tel 2 be­reits beschrieben, z. B. nutzungsoffene Bereiche vorsehen, ver­schiedene Gestaltungsmöglichkeiten offenhalten und eine mehrfunktionale Aus­stattung einplanen.

Erlebniswelten schaffen:

Damit das Kind seine Entwicklung und Entfaltung durch Aktivität vorantrei­ben kann, braucht es eine Umgebung, die die Eigentätigkeit altersgemäß heraus­fordert und stützt. Also reizvolle Erfahrungen in einer Umwelt, in der sich je­des Kind entsprechend seiner Individualität seinen eigenen Heraus­forderungen stellen kann und wie ich es ebenfalls bereits hier be­schrieben habe.

Widerstände benennen und Bündnispartner suchen:

Da, wie bereits beschrieben, Erwachsenenkultur (manifestiert in ihren städtebaulichen Ausdrucksformen) zumindest häufig der Kinderkultur und somit der Kinderfreundlichkeit entgegensteht, und Erwachsene immer Grün­de ha­ben können, weshalb Kinderfreundlichkeit doch gerade nicht umge­setzt werden kann, geht es also darum, in der Erwachsenenwelt nach Bündnis­partnern Ausschau zu halten.

Denn genauso wie Erwachsene, haben auch Kinder ihre Gründe. Und es sollte nicht selbstverständlich sein, daß Erwachseneninteressen den Vorrang vor Kinderinteressen haben.

Diese Gründe und Reibungspunkte, die zu Widerständen bei politischen Ent­scheidungsträgern werden können, gilt es zu benennen und in die Dis­kussion und in Verhandlung zu bringen. Zu erreichen ist das nur, wenn ge­gebenenfalls neue Bünd­nispartner (z. B. in diversen kommunalpolitischen Gremien oder in der Vernet­zung diverser Institutionen) gesucht werden, die be­reit sind, ge­meinsam für Kinder und mit Kindern zu handeln.

Partizipation praktizieren:

Nur Kinder selbst können der Maßstab für Kinderfreundlichkeit sein. Des­halb sollte sich Kinder­freundlichkeit nicht abstrakt von einem “kinderpoliti­schen Ex­perten” definieren lassen. Denn sie selber sind die Experten, wenn es um ih­re Bedürfnisse in ihrer Lebenswelt geht.

Wie im ersten Kapitel bereits dargestellt, kann es also nicht darum gehen, daß le­diglich Experten Kinderinteressen vertreten und sagen was gut für jene wä­re, sondern daß die Be­dürfnisse und Interessen der Kinder und Jugend­lichen an sich, von diesen selber er­arbeitet und artikuliert werden soll­ten. Dabei können und müssen Erwach­sene zwar als Anwälte in einer Erwach­senengesellschaft helfend fungieren, aber nicht ohne die Mitwirkung der Kin­der und Jugendlichen.

Was daraus praktisch und bezug nehmend auf die Sozialisation in der heutigen Gesellschaft folgt, wer­de ich später verdeutlichen.

Kinder haben eigene Rechte:

Kinder haben eigene Rechte, die jedoch meist (bewußt?) vergessen wer­den. Und das, obwohl gerade sie bei allem, was die (Erwachsenen-) Gesellschaft tut, immer mitbetroffen sind. Sie haben ein Recht auf Achtung als Subjekte unserer Gesellschaft. – Trotz und gerade, weil sie Kinder sind.

“Kinder” in diesem Sinne sind Säuglinge, Kleinkinder, Kindergartenkinder, Schulanfänger, Schulkinder, Jugendliche, Mädchen und Jungen, Kinder ausländischer und deutscher Herkunft, Kinder mit Behinderungen und Kin­der ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft.

Es gilt das ungeschriebene Gesetz der Gerechtigkeit und der Mitmenschlichkeit!

Aber nicht nur das. Ihre Rechte sind in vielen Gesetzestexten17 manifestiert und stellen die Grundlage allen kinderpolitischen und kinderfreundlichen Handelns dar.

  1. Siehe dieses Kapitel
  2. Infostelle Kinderpolitik beim Deutschen Kinderhilfswerk
  3. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002
  4. Bartscher 1998, Seite 12
  5. Bartscher 1998, Seite 12
  6. Infostelle Kinderpolitik beim Deutschen Kinderhilfswerk
  7. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 57
  8. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 72
  9. Richard von Weizsäcker, zit. n. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 65
  10. Bartscher 1998
  11. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nord­rhein-Westfalen 1993
  12. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 85
  13. Eichholz, zit. n. Fr ädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 86
  14. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 87 ff
  15. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 60
  16. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 89
  17. Welche ich, hauptsächlich auf den Aspekt der Partizipation und der Subjektstellung von Kindern hinsichtlich der Wohnumfeldgestaltung in Kapitel 4 darstellen werde.