Das Streben nach Selbstverwirklichung als Grundlage allen menschlichen Handelns
Bevor man sich also mit Menschen beschäftigt – direkt oder auch nur beschreibend – ist es meiner Meinung nach unerläßlich, sich zunächst einmal seines eigenen Menschenbildes gewahr zu werden. Denn immer, sei es nun in der Sozialen Arbeit oder “im ganz normalen Umgang mit Menschen” an sich, kann man nur so mit seinem jeweiligen Gegenüber kommunizieren, ihn verstehen, mit ihm (was auch immer) “aushandeln”.
In der Sozialen Arbeit ist es mit persönlichen Erfahrungen und einem Gefühl, wie man Menschen gegenübertritt allerdings nicht getan. Diesem Gefühl muß ein Wissen vorausgehen, um daraus hervorgehend überhaupt Möglichkeiten und Ziele (gemeinsam) zu erarbeiten, oder aber anderweitige soziale Probleme bearbeiten zu können.
Allerdings: “Jeder ist aufgrund seiner Sozialisation und vieler Erfahrungen zu seinem Menschenbild gelangt; dies möchte er nicht zur Diskussion stellen, so wie er auch das von anderen nicht diskutieren möchte, sondern toleriert. … Ist die Frage nach dem Menschenbild des Sozialpädagogen eine private oder (auch) öffentliche Angelegenheit? Geht dies nur den einzelnen etwas an oder auch die Öffentlichkeit? Diese kritischen Einwände sind verständlich, müssen jedoch überdacht werden. Der (Sozial-) Pädagoge übt eine Tätigkeit aus, die keineswegs eine private Angelegenheit ist.”1 Denn sein (wie auch immer zustande gekommenes) persönliches Menschenbild wird immer in seine Arbeit mit einfließen, also auch implizit publik werden.
Ein Ziel dieser Arbeit ist es auch, die bestehende Diskrepanz zwischen öffentlichem Menschenbild und dem, wie ich es in diesem Kapitel nun darstellen werde, zu verdeutlichen. Dabei handelt es sich um zum Teil in der Öffentlichkeit anerkannte Ansichten, die aber nicht oder nur teilweise zur Geltung kommen. – Ausgehend von zum Teil divergierenden Menschenbildern, wo oftmals auch Meinungen gegen (wissenschaftliche) Argumente stehen.
Schilling 2 trägt ein Menschenbild zusammen, welches hilfreich sein kann, auch und gerade dem (Sozial-) Pädagogen zu ermöglichen, seine pädagogischen Entscheidungen und Zielsetzungen zu treffen. Er kann von jenem Menschen bild, ob nun bewußt oder unbewußt, seine Ziele ableiten.
Der Mensch ist eine Ganzheit, er setzt sich zusammen aus verschiedenen “Dimensionen“. Diese “Seinsarten” sind Merkmale des Menschen. Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander, stehen miteinander in Wechselwirkung und bedingen sich somit gegenseitig. Kurz zu sammengefaßt bedeutet dies 3 dies:
- Der Mensch hat einen Körper (Biologisch-vitale / physische / psycho-somatische Dimension).
- Der Mensch hat Gefühl (Emotional-affektive / psychische Dimension).
- Der Mensch hat Verstand (Kognitiv-rationale Dimension).
- Der Mensch hat ein Wertsystem (Ethisch-wertende Dimension).
- Der Mensch handelt, ist aktiv, teilt sich über Handeln mit (Psychomotorische Dimension).
- Der Mensch lebt in Gemeinschaft, ist ständig in Interaktion und Kommunikation (Sozial-kommunikative / psycho-soziale Dimension).
Diese sechs Dimensionen hat der Mensch nicht, er ist sie. Sie sind in ihrer Gesamtheit seiner Persönlichkeit. Der Mensch bemüht sich, alle sechs Dimensionen gleichermaßen zu entwickeln und zu leben – hat ein Bedürfnis nach Entfaltung seiner Persönlichkeit.
“Kann der Mensch seine Bedürfnisse befriedigen, dann fühlt er sich wohl, ist er gesund. Die sechs Dimensionen stehen in einer gesunden Balance, aus der heraus der Mensch sein Leben bewältigen kann.”4
Dieses Menschenbild hilft, im Menschen Begabungen, Fähigkeiten, Können und Neigungen aber auch Defizite festzustellen.
- Es ist zudem zunächst einmal positiv.
Schilling verdeutlicht diese Ganzheit in der folgenden Graphik von Seite 200, welche er an Leonardo da Vinci angelehnt hat.
Grafik
Obwohl man aus der obigen Graphik ersehen kann, daß ein Mensch in erster Linie ein fühlendes Wesen ist, wozu sich erst im Laufe seines Lebens (etwa durch Lernerfahrungen) die weiteren Dimensionen herausbilden und gegenseitig bestenfalls positiv beeinflussen, so sieht man auch, daß einzelne Dimensionen über das Dreieck (welche in diesem Fall die Ganzheit des Individuums darstellt) hinausragen – nach außen dringen und mit der Umwelt interagieren.
“Grundlage allen Handelns ist die biologisch-vitale Dimension. Im Zentrum … steht die emotional-affektive Dimension. Von ihr aus gehen Impulse an den Verstand und gelangen zu einer Bewertung. Deshalb muß man sich die ethisch-wertende und kognitive Dimension ebenfalls als sich überschneidende Dimensionen vorstellen. Das Ergebnis führt zur Handlung, die immer einen sozialen Kontext hat.” 5
“Der Mensch ist primär ein handelndes Wesen, er braucht Handlungssituationen und verwirklicht sich im Handeln. Er ist von Natur aus ein aktives Wesen. … Der Mensch muß handeln, er muß sich ausdrücken. Das was er empfindet und denkt, was in seinem Inneren vorgeht, muß er “entäußern”, durch Handlungen nach außen bringen.”6
Zusammengefaßt bedeutet dies: “Zum Wesen des Menschen gehören Reflexivität, Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Darstellung.” 7
Auch Rogers geht davon aus, daß der Mensch, als Organismus verstanden, immer interaktiv, immer in Transaktion mit seiner Umwelt steht.
“Man kann sagen, daß in jedem Organismus auf jedweder Entwicklungsebene eine Grundtendenz zur konstruktiven Erfüllung der ihm innewohnen den Möglichkeiten vorhanden ist.” 8
“Das Bedürfnis nach Erforschung der Umgebung und dem Bewirken von Veränderung, das Bedürfnis zu spielen und das Verlangen nach Selbsterkenntnis – all diese und viele Verhaltensweisen sind im Grunde Ausdruck der Selbst verwirklichungstendenz.”9
Rogers Hypothese besagt zudem, daß das Individuum über Möglichkeiten verfügt, um “sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte, seine Grundeinstellungen und sein selbstgesteuertes Verhalten zu verändern.”10
Im Laufe des Lebens entwickelt sich ein Selbstkonzept des Organismus, welches man auch als “Kondensat” aller subjektiven Erfahrungen im Leben über die eigene Person beschreiben kann.
Das “Self-as-object” meint dabei die Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Einschätzung der eigenen Person, also, wie eine Person über sich als selbst denkendes, erinnerndes und wahrnehmendes Objekt denkt.
Das “Self-as-process” meint dabei mehr das Selbst als aktiv handelndes Element, als handelnde Person.
Rogers versteht das Selbst also nicht wie Freud als eine innere Instanz, sondern als das Objekt psychischer Prozesse wie Denken, Erinnern und Wahrnehmen. Ort dieser Prozesse ist die über den Organismus erfahrene Wirklichkeit, das “phänomenale Feld”, welches ein individueller Bezugsrahmen ist und welches nur das Individuum selbst kennt. 11
Der Mensch als eine Anhäufung von Erfahrungen des Lebens – von Körperwahrnehmungen als Interaktionen mit der Umwelt – ist somit das Selbst. Dieses Selbst ist die Prüfungsinstanz zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit. Es muß also zwischen “Innen” und “Außen” vergleichen und – was viel schwieriger ist – auch unterscheiden können. Dabei ist es doch immer bestrebt, seine integrierte innere Struktur aufrecht zu erhalten.
Zusammenfasend lässt sich hier (auch rückgreifend auf den soeben angegebenen Link) somit feststellen, daß es sich beim Menschen um ein Subjekt handelt. Also um ein wahrnehmendes, denkendes und wollendes Wesen, “von einem heranwachsenden Menschen … , der auf seine Lebens- und Lernprozesse einen aktiv-gestaltenden Einfluß nimmt. Menschen sind nicht Opfer ihrer Sozialisation, sondern sie wirken auf sich und ihre Umwelt immer auch selber ein und entwickeln sich auf diese Weise zum handlungsfähigen Wesen, zu einem Subjekt.” 12
Zur Subjektorientierung – Der theoretische Bezugsrahmen
Nun ist es also nicht so, daß der Mensch allein und autark in der Welt steht, sondern “daß Mensch und Welt, Subjekt und Objekt, Sein und Bewußtsein, Innen und Außen stets als untrennbare Einheit anzusehen sind.”13
Jeder Mensch “findet (aber) eine gegebene Umwelt vor, muß mit ihr fertig werden, sich in ihr bewegen lernen, gestaltet diese Welt ein Stück weit für sich und andere mit, allerdings immer nur in den Formen, die die soziale Welt bereit stellt. “14
Diese Einheit kann nun aber sowohl positiv prägend, als auch negativ ein schränkend sein.
Pantucek geht davon aus, daß sich der Mensch in einer Situation befindet, also “seinen Platz in der Welt, die Bedingungen, die ihm eben jetzt gegeben sind, die er zum Teil selbst geschaffen hat. Situationen strukturieren die Handlungsmöglichkeiten für die Person vor. ” 15
Dieser Begriff der Situation schließt das Verhältnis der Eigensinnigkeit der Person und die Widerständigkeit der (sozialen) Umwelt mit ein. Also “das Verhältnis und Wechselspiel zwischen autonomen Personen und ihrer Umwelt.” 16
Diese Herangehensweise leitet sich her aus der Kritischen Psychologie17, welche besagt, daß “das Mensch- (soziale) Umwelt-Verhältnis mit den Begriffen “Handlungsmöglichkeiten” und “Handlungsfähigkeit” zu beschreiben (wäre). Jede Situation, jede Lebenslage eröffnet dem Individuum bestimmte Möglichkeiten zu handeln, während sie sehr viele andere Möglichkeiten ausschließt. … Die Fähigkeit der Individuen, die in der Situation gegebenen Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen, können dann noch einmal durch intrapersonale Gründe eingeschränkt sein: Fehlende Fertigkeiten, Angst, mangelnde Kenntnisse, usw. … Die Handlungsbedingungen setzende Situation, in der der Klient agiert, die Person des Klienten selbst, und seine Verantwortung für das, was er tut.”18
Hieraus wird auch die Diskrepanz zwischen einerseits (vorgegebenen) sozialen Umweltbedingungen, wie aber auch die Möglichkeit und Freiheit der Menschen zur Wahl zwischen vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten und demzufolge ihrer Eigenverantwortlichkeit für ihr Tun deutlich.
Holzkamp geht davon aus, daß gesellschaftliche Bedingungen menschliches Handeln nicht determinieren, sondern sie als Bedeutungen zu fassen sind, die für die Menschen Handlungsmöglichkeiten repräsentieren, zu denen sie sich verhalten können und müssen.
“Handeln ist … (nicht) direkt determiniert, …, sondern in Prämissen begründet – gemäß den Interessen des Individuums und unter Bezug auf die ihm gegebenen Bedeutungen, die als sachlich-soziale Weltgegebenheiten Handlungsmöglichkeiten repräsentieren. Diese werden für das Individuum dann zu “Handlungs-Prämissen”, wenn es im Zuge gegebener Lebensproblematiken aus subjektiven Lösungsnotwendigkeiten heraus Handlungsintentionen entwickeln muß. … Prämissen sind Bedingungen, wie ich sie akzentuiere, sie sind sozusagen der subjektiv begr ündete Weltbezug.”19
“Außerdem sind Menschen ihr Leben lang lernfähig – und kein Mensch ist durch seine frühe Kindheit, durch das, was er hier gelernt oder erfahren hat, festgelegt. … Menschen können sich … zu ihren Lebensbedingungen und Gewohnheiten, Erfahrungen und zu ihrer Biographie bewußt verhalten; wenn es ihnen gelingt, sich nicht einfach als “Opfer” der Bedingungen zu begreifen oder die Bedingungen zu verändern, können sie auch ihre Gewohnheiten usw. verändern.”20
Holzkamp beschreibt seine Theorie als eine “subjektwissenschaftliche Betrachtungsweise, … (als) Psychologie … vom Standpunkt des Individuums aus.”21
Dabei geht er “von der Annahme aus, daß ein Mensch, solange er lebt, Handlungsalternativen hat. Resignation, woher sie auch kommen mag, bedeutet immer, daß man die Situation zu allgemein und zu global betrachtet, daß man nicht genau genug hinschaut oder hinschauen kann, um die eigenen Handlungs- und Bestimmungsmöglichkeiten zu sehen. … Wir bemühen uns, nicht Begriffe über Menschen zu bilden, sondern für Menschen. Wir wollen den “Standpunkt außerhalb” der traditionellen Psychologie in Richtung auf die Klärung und Verallgemeinerung des “Standpunktes der Betroffenen” überwinden. Deshalb kann die Kritische Psychologie auch nicht vorschreiben, was gut und was schlecht, was der einzelne tun oder lassen soll. Vielmehr soll das Individuum in die Lage versetzt werden, seine Interessen zu erkennen und die eigene Situation so zu durchschauen, daß es seine konkreten Handlungs- und Lebensmöglichkeiten sehen und realisieren kann.”22
Eine weitere hilfreiche Theorie ist noch das Interaktionistische Modell23 (Graphik 2), welches ergänzt, “daß zu einem Verstehen der “Person in der Situation” die Kenntnis der Bedingungen gehört, der Handlungen, dessen, was sich die Person dazu denkt …, und der Folgen (wie die Handlungen die künftigen Handlungsbedingungen mitkonstituieren).”24 Es macht deutlich, daß es sich bei diesem Menschenbild nicht um ein statisches Bild handelt, sondern um eines, welches sich durch seine Interaktionen immer in Veränderung befindet.
Graphik25
Zieht man nun noch das Modell der Lebensweltorientierung26 zu Rate, so kann man von einem (jeweils individuell zu sehenden) “pseudokonkreten Alltag“27 des Menschen sprechen, der sich zusammensetzt aus einem “Gemengelage aus Täuschung und Wirklichkeit, aus gelingender Alltagsbewältigung und Scheitern, aus pragmatischer Alltagsdeutung und Selbsttäuschung”28, mit dem sich ein Sozialpädagoge/-arbeiter konfrontiert sieht, wenn er einem Klienten in seiner Lebenswelt entgegentritt. Lebensweltorientierung “nimmt den Alltag der Adressaten, d. h. den Ort, wo Probleme entstehen, wo Leben gelebt wird, wo die Adressaten selbst mehr oder minder angemessene Strategien der Lebensbewältigung praktizieren, als originären Ort … in den Blick.”29 Dieser Blick zielt “auf die Bewältigungs- und Verarbeitungsformen von Problemen in der Lebenswelt der AdressatInnen, gewissermaßen auf die Spielregeln, in denen Vorgaben, Themen und Strukturen bearbeitet werden, die sich aus der gesellschaftlichen Situation, den biographisch geprägten Lebenserfahrungen und den normativen Ansprüchen ergeben.”30 Die AdressatInnen werden hierbei “als Experten ihrer Lebensrealität“31 betrachtet, an deren Wissensvorrat und -vorsprung, was ihren gelebten Alltag betrifft, es anzuknüpfen gilt.
Diese Sachverhalte in ihrer Komplexität aufzudecken32, dieses eventuelle Scheitern zu verhindern und neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, ist eine Aufgabe der Sozialen Arbeit, “allerdings immer unter der Maxime, daß der Klient prinzipiell kompetent ist, sein eigenes Leben zu leben.”33
Über den Umgang mit Menschen
Der gedankliche Ausgangspunkt sollte also sein, daß der Gegenüber eigene Entscheidungen treffen kann und muß und es ihm somit ermöglicht werden sollte, seine Handlungsmöglichkeiten / seinen Handlungsspielraum hinsichtlich seines Strebens nach Selbstverwirklichung zu erweitern.
Auch die Kritische Psychologie nach Holzkamp impliziert für die Soziale Arbeit, daß “man sich mit dem Klienten auseinandersetzen, seine Sichtweise kennenlernen (muß). Glaubt der Sozialarbeiter immer schon von vornherein zu wissen, was für den Betroffenen gut ist, agiert und entscheidet er “für” den Klienten, so vergrößert das dessen Abhängigkeit. Seine Handungsfähigkeit wird weiter eingeschränkt statt erweitert. Also: die ethische Forderung nach Respekt vor dem Klienten … und seiner maximalen Einbeziehung in den Prozeß ist so betrachtet auch ein methodisches Muß. … Es empfiehlt sich, alles zu tun, was die Möglichkeiten des Klienten vergrößert, eigene informierte Entscheidungen über sich und sein Leben zu treffen.”34
“Wir können den Menschen nicht vorschreiben, welche Bedürfnisse sie haben sollen. Wenn jemand tatsächlich glaubt, unter diesen und jenen Bedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft zurechtkommen und leben zu können, dann ist das ja in Ordnung. Aber wir glauben, daß dieses Zurückstecken und Sicheinrichten für die meisten Betroffenen selbst widersprüchlich und auf Dauer auch unerträglich ist. Im Grunde merken Menschen, daß dies “nicht alles gewesen sein kann”. Dieses erfahrene Ungenügen muß zur Artikulation gebracht werden. Aber wo kein Ungenügen erfahren wird, kann auch nichts artikuliert werden. … Solange die Erfahrung des Ungenügens nicht den Betroffenen zu Klärungen und zu Veränderungen seiner Lebensbedingungen drängt, solange er sein Leben in Ordnung findet, so lange haben wir uns nicht einzumischen. … Sie müssen ihre Lebensbedingungen ja selbst ändern, man kann sie nicht für sie ändern, sie müssen selbst ihre Lage erkennen und L ösungen erarbeiten.”35
Der helfende Prozeß ist nach Holzkamp also auch ein Art Wechselwirkung in einer Beziehung zum Betroffenen.
Ulmann36 bezieht sich wie Pantucek ebenfalls auf Holzkamp und kommt zu dem Schluß, daß es sich bei dem Umgang mit Menschen um Verständigung, also auch um Beziehungsarbeit handeln muß.
“Gemäß unserer Grundannahme “funktioniert” eine versuchte Konfliktlösung dann nicht, wenn die Beteiligten sich nicht verständigen konnten, wenn also Gründe von Betroffenen außen vor blieben, … . Verständigung ist zwar noch nicht automatisch die Konfliktlösung, aber eine notwendige Vorraussetzung dafür, daß ein Konflikt gemeinsam l ösbar ist. Und nur eine gemeinsame Konfliktlösung kann “funktionieren”.”37
“Wenn man einen Plan dafür macht, wie ein Mensch werden soll, und die Schritte zu diesem Ziel genau einhält, wird das, was man für oder mit dem Menschen tut …, vom Standpunkt des verplanten Menschen aus immer chaotisch und unverständlich und willkürlich sein; es wird allerhöchstens zufällig, und dann nur oberflächlich, mit seinen Bed ürfnissen, Wünschen, Absichten übereinstimmen.”38
Wie könnte eine solche notwendige Beziehung denn nun aussehen und auf gebaut werden?
Rogers, dessen Menschenbild ich hier schon näher dargestellt habe, entwickelte auf jener Basis nicht nur seine bekannte Therapiekonzeption (auf die ich hier nicht weiter eingehen werde), sondern weitete diese immer mehr zu einer umfassenden Theorie zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen aus “mit der idealen Perspektive der sich voll entfaltenden Persönlichkeit.”39
Diese Beziehungen beruhen auf den gleichen Grundeinstellungen, wie die seiner Therapiekonzeption. Sie dienen dazu, ein Klima zu schaffen, welches es dem Gegenüber ermöglicht, “konstruktive und wachstumsfördernde Veränderungen in der Persönlichkeit und im Verhalten von Individuen freizusetzen. In einer durch diese Haltung gekennzeichneten Umwelt entwickeln die Menschen mehr Selbsterkenntnis, mehr Selbstvertrauen und eine größere Fähigkeit, ihr Verhalten zu wählen. Sie machen signifikantere Lernfortschritte und sie haben mehr Freiheit zu sein und zu werden. “40
Da Rogers Grundeinstellungen Kongruenz, Empathie und die bedingungslose positive Zuwendung hinlänglich bekannt sein dürften und an dieser Stelle deshalb auch nicht näherer ausgebreitet werden, hier nur eine erläuternde Zusammenfassung von Peter F. Schmid Rogers Ansatz:
“Keiner weiß besser, was ihm gut tut und für ihn notwendig ist, als der Betroffene selbst. Wir können einander also nicht beibringen, was für uns gut ist. Nicht mit noch so ausgeklügelten Techniken. Aber wir können einander dabei unterstützen, es selbst herauszufinden.”41
Nicht “Experten”, die sich anmaßen, es besser als andere zu wissen und daher voreilige Ratschläge geben, sondern Helfer, die bereit sind, sich ganz auf die Welt eines anderen einzulassen, die versuchen, ihn zu verstehen und zu begleiten, und die dabei selbst bleiben, was sie sind: Transparente Gegenüber.
Dies ist der Weg zu einem hilfreichen Umgang mit Menschen: Nämlich durch eine aufrichtige Beziehung von Mensch zu Mensch, Hilfe anzubieten.
“Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind schon welche “
Hält man sich dieses Zitat42, dem zunächst auch niemand zu widersprechen in der Lage wäre, vor Augen, so kann man sich ungefähr vorstellen, was die hiesige Gesellschaft den Kindern und Jugendlichen gegenüber für eine Einstellung einnehmen müßte, ginge sie von Kindern als vollwertigen, gleichberechtigten Menschen – als Subjekte – in der Gesellschaft aus. Denn jenes Menschenbild, wie ich nun zusammengetragen habe, gilt natürlich nicht nur für jene, die der Kindheit und der Jugend bereits entwachsen sind.
So sind Kinder und Jugendliche “nicht an dem zu messen, was sie noch nicht sind, sondern sie sind junge Menschen mit eigener Wahrnehmung, eigenen Bedürfnissen und eigenen Erwartungen, die grundsätzlich denselben Respekt verdienen wie die Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Erwartungen der anderen Gesellschaftsmitglieder. … Nur weil Kinder Subjekte sind und sich in ihrem Subjekt-Sein entfalten, können Kinder zu aktiven Mitgliedern in Beziehungen und Gruppen, in Institutionen und der Gesellschaft werden. Diesen Weg finden Kinder vor allem dann, wenn alle, die an den Prozessen der Entwicklung … beteiligt sind, sie nicht nur einzupassen versuchen, sondern sie ihr eigenes Sinnverst ändnis entfalten lassen.”43
Doch schon Hesse44 zeigte in seinem Roman das Schicksal eines begabten Jungen auf, dem durch äußere Einflußgrößen eine Rolle aufgenötigt wird, die ihm nicht entspricht, die ihn “unters Rad” drängt.
“Der Roman enthält ungefähr eine Anleitung für Eltern, Vormünder und Lehrer, wie man einen … jungen Menschen am zweckmäßigsten zugrunde richtet.”45
Nun muß dies freilich nicht immer so dramatisch enden, wie in jenem Roman. Doch wie sieht es heutzutage tatsächlich aus, in einer Erwachsenenwelt, die Kinder und Jugendliche als Subjekte der Gemeinschaft achten sollte?
Achtet sie das Kind als eigenständiges Individuum, als Subjekt, daß ebenfalls Wünsche, Bedürfnisse und Gründe zu handeln hat und dem das gleiche Streben nach Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung seiner Persönlichkeit inne wohnt? Oder betrachtet sie Kinder und Jugendliche nicht lediglich als Anhängsel der Erwachsenen, welche zudem schon (besser) wissen, was gut für ihren Nachwuchs ist?
So kann das Subjekt-Sein der “Noch-Nicht-Erwachsenen” sich nämlich auch darin ausdrücken, daß sie, wenn sie mit Regeln, Vorgaben und Beziehungen der (Erwachsenen-) Gesellschaft nicht zufrieden sind, irritiert und verstört reagieren, sich entziehen, sabotieren und sich destruktiv verhalten, weil sich diese Reaktionen für sie als die einzigen Handlungsmöglichkeiten erschließen. In diesen Akten äußert sich nämlich auch Resignation “und Resignation ist die Anerkennung des Gewichts objektiver Realität.”46
“Allerdings begegnet sich die Gesellschaft in diesen Akten der Verweigerung, Selbstzerstörung und Gewalt gegen Sachen und Personen selbst.”47 Was sie also beklagt, ist nur eine Antwort auf das, was sie Kindern und Jugendlichen vorgibt, bzw. (nicht) ermöglicht. Ein Spiegel ihrer selbst, für die Verunmöglichungen48, die sie Heranwachsenden bereitet.
“Wenn jedoch Kinder in einer Gesellschaft aussprechen können, was sie entdecken, gibt es Entwicklungschancen für Kinder und die Gesellschaft.”49
Zur Definition der Zielgruppe
Ging es bisher immer um Heranwachsende, Kinder und / oder Jugendliche, was vielleicht auch für Verwirrung sorgte, so möchte ich nun zunächst kurz darstellen, wie ich die Zielgruppe meiner Untersuchung definiere.
Ausgangspunkte bilden für mich im Kontext dieser Arbeit nicht vorrangig “Entwicklungsaufgaben”, an denen sich Kinder und Jugendliche im Laufe ihres Lebens “abzuarbeiten” haben und an denen man in der Literatur Kindheit und Jugendalter festzumachen versucht.50 Zumal es Entwicklungsaufgaben und auch -möglichkeiten ja ein Leben lang zu “bewältigen” und zu entwickeln gibt, wie ich in den vorangegangenen Abschnitten versucht habe zu verdeutlichen. So würde es in diesem Kontext kaum Sinn machen, das Jugendalter / die Adoleszenz gar bis zum 35. Lebensjahr zu “veranschlagen”51, während dies in einem anderen Kontext wiederum unerläßlich wäre.
Also muß ich nach einer anderen / angemesseneren Definition Ausschau halten.
Sprach ich im vorigen Kapitel bereits von einer Erwachsenenwelt, so kann man sich, um sich meiner Definition zu nähern, zunächst einmal vergegen wärtigen, was “erwachsen” überhaupt meint.
Erwachsen zu sein heißt in unserer Gesellschaft vor allem, daß man nun “volljährig” geworden ist. “Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres ein.”52 Im Umkehrschluß bedeutet dies laut UN-Kinderrechtskonvention, daß “Kinder … danach grundsätzlich alle Menschen (sind), die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.”53
Damit einhergehend ist der Zeitpunkt gemeint, ab welchem sie gesellschaftlich als “Erwachsene”, als Volljährige, als Individuen und Subjekte anerkannt, bzw. angesehen werden und in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext sich in den vorgegebenen Gesetzen und Grenzen eines “normalen Mitbürgers” mit einbringen dürfen. Als ein Kriterium wäre an dieser Stelle z. B. die Teilnahme an Wahlen zu nennen.
Demnach wären Kinder und Jugendliche nach meiner Definition als Minderjährige zu definieren. Minderjährige sind nicht Volljährige, nicht Erwachsene, die sich, wie auch immer, (vermeintlich) nicht in gesellschaftliche Prozesse mit einbringen dürfen. Nicht etwa, weil sie zu dumm dazu wären, sondern lediglich, weil die Gesellschaft bis heute diesen Menschen aufgrund ihres Alters kaum Möglichkeiten anbietet, deren Bedürfnisse, Meinungen und Wünsche in was auch immer für geartete Prozesse mit einzubringen. Der Umkehrschluß hiervon wäre dann allerdings, daß Kinder als Objekte, nicht Subjekte dieser Gesellschaft anzusehen wären.54
Somit schlage ich vor, meine Zielgruppe hinsichtlich ihrer (vermeintlich) verhinderten Möglichkeiten zum Mitgestalten hinsichtlich ihrer Bed ürfnisbefriedigung zu definieren.
“Kinder haben bereits im zweiten Lebensjahr ein von der Umwelt abgegrenztes Selbstkonzept entwickelt und können mit spätestens 3 Jahren über sich selbst reflektieren. Wird Kindern zu anstehenden Entscheidungen Wissen und Information entwicklungsangemessen vermittelt, so verstehen sie, worum es bei den Alternativen geht, und können Entscheidungen treffen. … Die häufig beschriebene Trotzphase ist nichts anderes als ein Zeichen für den starken Entscheidungswillen des Kindes.”55
Zusammengenommen möchte ich deshalb folgende Definition der Zielgruppe vornehmen:
Kinder, wenn sie im Zusammenhang dieser Thematik ausdrücklich genannt werden, sind Menschen im Alter von 3 bis 12 Jahren und Jugendliche sind Men schen im Alter von 13 bis 18 Jahren.
In der Literatur zum Thema “Partizipation” und “Kinderpolitik” wird allerdings zumeist zusammenfassend von Kindern gesprochen, weswegen ich mich diesem Begriff im weiteren Verlauf dieser Arbeit, dort wo es meines Erachtens an gebracht ist, anschließen möchte.56
- Schilling 1995, Seite 173 ↩
- Schilling 1995 ↩
- Schilling 1995, Seite 183 ↩
- Schilling 1995, Seite 187 ↩
- Schilling 1995, Seite 201 ↩
- Schilling 1995, Seite 198 ↩
- Schilling 1995, Seite 177 ↩
- Rogers 1981, Seite 69 ↩
- Rogers 1981, Seite 74 ↩
- Rogers 1981, Seite 66 ↩
- Quitmann 1996 ↩
- Tillmann 1997, Seite 12 ↩
- Quitmann 1996, Seite 66 ↩
- Pantucek 1998, Seite 69 ↩
- Pantucek 1998, Seite 70 ↩
- Pantucek 1998, Seite 71 ↩
- Siehe Holzkamp 1984 & Markard 2000 ↩
- Pantucek 1998, Seite 71 ↩
- Markard 2000 ↩
- Ulmann 1999, Seite 106 ↩
- Holzkamp 1984 ↩
- Holzkamp 1984 ↩
- Siehe Pantucek 1998, Seite 73 ↩
- Pantucek 1998, Seite 73 ↩
- Pantucek 1998, Seite 73 ↩
- Siehe dazu Pantuèek 1998 & Galuske 1999 ↩
- Thiersch, zit. n. Galuske 1999, Seite 134 ↩
- Thiersch, zit. n. Galuske 1999, Seite 134 ↩
- Galuske 1999, Seite 133 ↩
- Thiersch, zit. n. Galuske 1999, Seite 133 f ↩
- Pantuèek 1998, Seite 84 ↩
- Zum Umgang mit Komplexität siehe auch Vester 2000 ↩
- Galuske 1999, Seite 134 ↩
- Pantucek 1998, Seite 71 f ↩
- Holzkamp 1984 ↩
- Ulmann bezieht sich hier allerdings in erster Linie auf die Beziehung zwischen Eltern und deren Kindern. ↩
- Ulmann 1999, Seite 197 ↩
- Ulmann 1999, Seite 208 ↩
- Quitmann 1996, Seite 164 ↩
- Rogers 1981, Seite 84 ↩
- Schmid, Peter F.: Der Personenzentrierte Ansatz Carl R. Rogers; www.pfs.kabelnet.at ↩
- Korczak, zit. n. Frädrich / Jerger-Bachmann 1995, Seite 15 ↩
- Bundesministerium f ür Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 288 ↩
- Hesse 1906 ↩
- Eloesser, zit. n. Schneider im Vorwort zu Hesse 1986 ↩
- Sennett 2000, Seite 183 ↩
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 288 ↩
- Vgl. Staub-Bernasconi 1996 und Kapitel 6 ↩
- Eloesser, zit. n. Schneider im Vorwort zu Hesse 1986 ↩
- Dies würde den teilweise auch vorgegebenen Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. Weswegen ich hier lediglich u. a. auf Hurrelmann 1999, Tillmann 1997 & Ferchhoff 1999 verweisen möchte. ↩
- Siehe Ferchhoff 1999 ↩
- Beck-Texte im dtv 1997 ↩
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1996, Seite 38 ↩
- Vgl. u. a. Jordan / Sengling 2000 & Schellhorn 1996 ↩
- Oerter n. Schröder 1996, Seite 34; Vgl. Ulmann 1999 ↩
- Vgl. Infostelle Kinderpolitik beim Deutschen Kinderhilfswerk ↩