Schlußreflexion
Ausgehend von der formativen Tendenz und der Orientierung auf den Menschen als Subjekt, mitsamt seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten – letztendlich aber ohne die Gesamtheit des Systems aus den Augen zu verlieren – ist es Aufgabe der Sozialen Arbeit, ihre jeweilige Zielgruppe dafür zu sensibilisieren, daß es durchaus Möglichkeiten gibt, sich in den formativen Prozessen dieser Gesellschaft mit einzubringen und sich daran zu beteiligen. Denn sie sind es, um die es schließlich geht. Demnach sind auch sie die Experten, wenn es um ihre Belange, seien es nun Mangellagen oder Wünsche, geht. So sind sie, gerade und auch in der Gruppe immer als politisches Subjekt zu verstehen.
Wenn Rogers in seiner Theorie der formativen Tendenz nun schreibt, daß es darum geht, in einer Beziehung “ein Milieu zu schaffen, das man als “psychologisches Fruchtwasser” bezeichnen könnte”1, in welchem sich die Menschen konstruktiv zur Selbstverwirklichung hin entwickeln können und wenn Stange wiederum schreibt, daß seine Methode der Beteiligungsspirale (durch sein geschaffenes positives und kreatives Milieu) als “Geburtshelfer”2 für neue Ideen, Gedanken und Handlungsimpulse zu verstehen ist, die dazu dienen soll, die Grundbedürfnisse nach selbstbestimmter Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen besser zu befriedigen, so sind hier schon rein metaphorisch frappierende Gemeinsamkeiten zu erkennen, die man an dieser Stelle nicht mehr weiter zu erklären braucht.
Auch Schilling kommt zu der Ansicht, daß Menschen verstärkt in ihren Gefühlen angesprochen und vermehrt zum Handeln angeregt werden sollten. “Gefühls- und Handlungserziehung sind gefordert. Dies kann die Sozialpädagogik dadurch anstreben, daß sie Erlebnis- und Handlungsfelder den Menschen zur Verfügung stellt. Hierin liegt die besondere Chance der Sozialpädagogik, ihren eigenen Erziehungsauftrag im Erziehungs- Bildungs- und Lernsystem unserer Gesellschaft zu finden. Eine Analyse der Probleme von Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen wie Senioren könnte deutlich machen, daß gerade auf den Gebieten der Erlebnisse und Handlungen die Menschen unserer Zeit große Bedürfnisse und Interessen wie auch Mängel und Defizite haben.
Wenn die Sozialpädagogik sich diesen Aufgaben stellt und sich ihrer annimmt, wird sie in unserer Gesellschaft zu einer wichtigen und notwendigen Einrichtung. Sie könnte … Aufgaben übernehmen, die für die Entwicklung der Persönlichkeit wichtig sind und die von den anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen … nur schwer oder gar nicht geleistet werden können.”3
Bei allen in dieser Arbeit genannten Theorien und Modellen, könnte man nun allerdings denken, daß ich mich nicht für eine einzelne entscheiden konnte und somit der Verdacht der Beliebigkeit aufkommen.
- Konnte ich auch nicht, denn wie ich verdeutlicht habe, müssen sich verschiedene Ansätze nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr können sich diese auch hervorragend ergänzen. Zumal, wie es sich mir darstellt, zwischen ihnen viele Gemeinsamkeiten bestehen und teilweise Aspekte enthalten, die woanders vielleicht nicht so stark zur Geltung kommen. Was würde es also für einen Sinn machen, lediglich einer Philosophie “hinterherzuhecheln”, wenn man sich dadurch den Blick für die Gesamtheit verstellen würde?
Partizipation von Kindern und Jugendlichen, also selbstbestimmtes, mitverantwortliches Handeln mit dem Streben nach Selbstverwirklichung von mündigen Bürgern kann bzw. wird die Gesellschaft demokratisieren. Auf jeden Fall birgt echte Partizipation die Chance dazu, eine Gesellschaft / Gemeinschaft mit menschlicherem Antlitz zu gestalten und so den aufkommenden ökonomisch-politischen Machtstrukturen und -verh ältnissen entgegenzutreten.
So ist bereits heute fraglich, ob Politik überhaupt noch über das entscheiden kann, was sie zu steuern beansprucht. Denn durch die in den 80er Jahren eingeleitete Internationalisierung der Geld-, Waren- und Kapitalmärkte und die bestehenden globalen ökologischen Probleme werden die innerstaatlichen Steuerungsmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt. Die Geister, die man damals rief, haben heute schon zur Folge, daß man von einer “Einengung der politischen Autonomie von Teilen der Gesellschaft”4 sprechen kann. Die Globalisierung birgt also die Gefahr in sich, daß der letztendlich immer noch demokratisch zu nennende Kapitalismus, immer mehr die nötigen sozialen Experimente zu verhindern droht und zu einer Zentralisierung von Entscheidungsprozessen nach Elitekonzepten von Interessengruppen drängt.5
Kinderpolitik hätte somit auch die Aufgabe, Kinder und Erwachsene zumindest auf diese Zukunftsszenarien vorzubereiten und damit einer Überforderung von Menschen durch ungesteuerten Wandel der Gesellschaft und damit verbundener Resignation entgegenzuwirken. Dies ist das mindeste, was Kinderpolitik bewirken kann und muß.
Ob Kinderpolitik – und hier explizit Partizipation – helfen kann, die Zukunft wirklich mit zu gestalten, hängt entscheidend davon ab, inwieweit die Erwachsenen es Kindern und Jugendlichen heute schon ermöglichen, eine Demokratie im Alltag zu entwickeln, welche dann in deren Zukunft, wenn diese selbst erwachsen sind, von diesen umgesetzt und weitergegeben werden könnte. Der Versuch ist also, aufzuzeigen, daß es Handlungsmöglichkeiten und -alternativen geben könnte, den Wandel unter demokratische Kontrolle zu bringen.
Dabei können, sollten und müssen alle mitmachen, wenn es darum gehen soll, daß es den Menschen weiterhin möglich ist, sich den oben genannten Strömungen zu widersetzen. In der Geschichte der Menschheit gab es unter anderem bereits die industrielle und die digitale Revolution. Heute befinden wir uns in einem globalen Umwälzungsprozeß, der den Menschen immer mehr ihrer Handlungsmöglichkeiten zu berauben droht.
Bis auf die friedliche Revolution der Bürger der damaligen Deutschen Demokratischen Republik, war noch nie etwas von einer menschlichen und humanen Revolution zu lesen. Doch schon Rogers schrieb von der Macht des neuen Menschen und der Revolution, die er in sich trägt.6 Wäre es denn nicht einmal Zeit hierfür?
Und warum ausgerechnet ein Stück der Einstürzenden Neubauten als Titel dieser Arbeit, wo doch Herbert Grönemeyers “Kinder an die Macht” vermeintlich viel näher liegt?
“Die Neubauten waren immer schon bestrebt, die berauschenden Energieströme der Revolution vor den falschen Bewußtseinszuständen der gescheiterten Utopien zu retten. Mit Was ist ist gelingt ihnen das …. Einfach, indem sie ihre eigene Version einem politischen Palimpsest einschreiben und dabei das Original von allem außer seiner beflügelnden Textur reinigen. … Und da Blixa keine spezielle politische Plattform hat, ersetzt er die herkömmliche Form botschaftsüberladener Texte durch … Leerstellen …, in die die Hörer ihre eigenen idealen Zukunftsvorstellungen einfügen können. Tatsächlich waren die Mitglieder des Chors gehalten, diese Leerstellen selbst zu füllen. Ihre Antworten ertönen im Stil einer babylonischen Sprachverwirrung: alle zugleich. Dabei werden ihre individuellen Forderungen zwar (zunächst) verschleiert, doch liefern sie in diesem Prozeß zugleich ein hellsichtigere Vision vom Lauf der Welt.”7
Dagegen erscheint Herbert Grönemeyer Liedchen – auch wenn gut gemeint – als plumpes Machwerk, welches wieder einmal von der vermeintlich so hohen Warte eines Erwachsenen ausgeht. Und Zeilen wie etwa “Kinder wissen nicht was sie tun” und “Gebt den Kindern das Kommando” habe ich bereits im Verlauf dieser Arbeit entkräftet.
Deshalb: “Was ist, ist; was nicht ist, ist möglich. – Nur was nicht ist, ist möglich!“